Zeitreise.

Neben drei Ablagefächern steht eine weisse Kaffeetasse.

Darauf schaue ich, wenn ich durch mein Hotelfenster in das gegenüberliegende Gebäude blicke.

Sie ist unbenutzt.

Weil Wochenende ist.

Mein Bonn Wochenende.

Freitag.

Als ich mit dem Zug gen Bonner Hauptbahnhof rolle, kommt mir der Anfang von Heinrich Böll`s Ansichten eines Clowns in den Sinn.

Der Protagonist kommt auch an und humpelt im ersten Kapitel über den Bahnhofvorplatz in sein Appartment in der Poststraße.

Ich bin so darauf konzentriert, das Gebäude zu erspähen und es zu fotografieren, dass ich die Abzweigung zu meinem Hotel verpasse.

Es hat sich viel verändert, seit ich zuletzt hier war.

Was sich nicht verändert hat: es ist sehr schwül.

Ich ziehe ein leichtes Strandkleid an und begebe mich zu meiner Verabredung.

Wenn man sich in Bonn trifft dann am Beethoven!

Der ist zum Glück wieder da, denn er war ein paar Monate in Restauration.

Samstag.

Ich stehe früh auf und verlasse das Hotel, um draußen einen schönen Platz für ein Frühstück zu finden.

Vor dem Hotel halten sich verkaterte Nachtschwärmer auf, die von der Nacht übrig geblieben sind. Im Hofgarten campt eine Gruppe Punks. Einer grüßt mit einem freundlichen „Moin!“.

Frühstück finde ich am Martinsplatz. Die Stadt erwacht. Ein kleiner Biomarkt macht seine Wagen auf.

Vor der Münsterkirche steht eine Wand der Menschheit, auf der Personen skizziert sind.

In Bölls Ansichten eines Clowns dreht sich alles um Katholizismus. Das Buch wurde in den 1963er Jahren geschrieben und ich frage mich, warum sich seit dem einfach so wenig geändert hat.

Ich streife durch die Straßen und mache Fotos. Von der Stadt, in die ich geboren wurde. In der ich studiert habe.

Die Sonne scheint.

Das stattliche Metropolkino ist heute ein Buchladen über mehrere Etagen. Die Elemente des Kinos wurden erhalten. Die Lesenden können sich auf der Empore die Kinostühle runterklappen. Der rote Samtvorhang geht über mehrere Etagen. Selbst die seitlichen Treppen, die zu den unteren Reihen führten, sind noch da.

Als ich um eine Ecke gehe, steigt mir ein vertrauter Geruch in die Nase.

Ein Geruch aus einer anderen Zeit.

Und ich kann es mir nicht verkneifen, mir eine Auswahl Räucherstäbchen zu kaufen: Entspannung und Transformation.

Sonntag.

Nach dem Abend mit der Freundin unter dem großen Baum schlafe ich ausgezeichnet und länger als gewohnt. Wir haben viel gelacht. Und über Opern gesprochen. Über Carmen und die Zigarettenfabrik. Über La Boheme. Über Wagner.

Ich stehe sofort auf und gehe zum Frühstück. Es war eine gute Entscheidung heute im Hotel zu reservieren. Auf meinen Ei steht Bonn. Das O als Herz.

Ich wähle einen Tisch mit Blick auf den sonnigen Außenplatz und esse mit Genuß.

Dann wird es auch schon Zeit, das gemietete Fahrrad zu holen. Ich kannte den neuen Platz der Radstation, die von der Caritas betrieben wird, noch nicht.

Die Formalitäten waren schnell geklärt und ich radelte Richtung Rhein. Die Punks waren noch auf dem gleichen Platz.

Die Stadt war herrlich leer. Ein Touristenpäarchen höre ich sagen: „ It is really unpleasant that on sundays all Shops are closed.“ Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Am Rhein angekommen sauge ich die Luft tief ein. Es riecht nach Fisch.

So gut kenne ich mich in meiner Stadt nicht mehr aus. Ich fahre ein paar Umwege bevor ich das Kunstmuseum erreichte.

Die Ausstellung über Simone de Beauvoir hat mich zuhause schon neugierig gemacht und steht fest auf meinem Programm. Ich hatte das Glück eine Zeit lang ganz alleine dort zu sein.

Die Ausstellung ist klein aber sehr fein. Ihre Biographie, ihre weltweite Anerkennung für „das andere Geschlecht“, der Durchbruch für die Emanzipation, ihre Beziehung zu Sartre, ihre Reisen in die USA und die UDSSR.

In einem kleinen Film konnte man den Film anschauen, den Alice Schwarzer 1974 über sie gemacht hat.

Im Buchladen kaufte ich das Buch „Das Alter“. Und zwei Portraits von ihr in Postkartengröße.

Dann zog ich weiter ins Haus der Geschichte. Ich sah mir nur den Teil an, den ich noch nicht kannte. Ich fotografierte die „Digitale Transformation“ als Geschichte, die Enstehung der Grünen und ehemalige DDR Schriftstellerinnen.

Kann man eigentlich zu viele Bücher gleichzeitig lesen?

Ich kann mich derzeit nicht entscheiden zwischen „Die Enkelin“ von Bernhard Schlink, M Train von Patti Smith und Das Alter von Simone de Beauvoir. Und die Reisetagebücher in die USA und die UDSSR habe ich mir noch dazu bestellt.

Was habe ich gelernt?

Bonn ist Geschichte.

Die Aussage von Simone aus dem Jahr 1974 gilt: „Das System beruht auf der Unterdrückung der Frau. Wenn die Bewegung Erfolg hat, wird das System zerbrechen. Bisher hat es keinen Fortschritt gegeben.“

Ich blicke auf den Katholizismus von außen. Wie Heinrich Böll. Und bin zunehmend zu keinen Kompromissen mehr bereit.

Ich liebe Opern.

Und morgen wird ein Büroarbeiter wieder seine weiße Tasse benutzen und seine Routine aufnehmen, während ich transformiert weiter reise.

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  1. Avatar von Kai
    Kai

    Liebe Sabine, schön von Dir zu lesen! Ria und ich waren vor kurzem mit 9€-Ticket für ein paar Stündchen in Bonn. Kannst Du mit Deiner Geburts-/Heimatstadt wirklich abschließen? Wenn ich in Mainz bin, schwingt da immer ganz viel Erinnerung mit; das hört wohl nie auf. – Spannend, welche Kompromisse Du bzgl. katholischer Kirche meinst. Mir hat der Papst den Rest gegeben mit seinem ironischen(?) Spruch, in Dtl. brauche es keine zweite evangelische Kirche. Viele Grüße, Kai

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